Wie normal ist Anderssein? Hilft das Konzept der Neurodiversität Menschen mit ADHS?
In Deutschland leben Millionen von Menschen mit ADHS, Autismus oder anderen neurobiologischen Besonderheiten wie Legasthenie oder Synästhesie. Die Neurodiversitätsbewegung, entstanden aus dem Engagement autistischer Aktivist*innen in den 1990ern, fordert mehr Akzeptanz statt Ausgrenzung und plädiert für ein Umdenken im Umgang mit neurokognitiven Unterschieden – weg von Pathologisierung, hin zur Anerkennung von Stärken und Potenzialen.
Das Konzept ist für viele eine wichtige Quelle der Selbstermächtigung und hilft dabei, Stigmata zu reduzieren. Es schafft Raum für eine differenzierte Sichtweise jenseits von klassischen Diagnosen und ermöglicht einen Blick auf Ressourcen statt nur auf Defizite – gerade bei leichteren Ausprägungen wie milder ADHS.
Doch es gibt auch kritische Stimmen: Psychiater Prof. Dr. Georg Schomerus warnt davor, dass schwer betroffene Menschen – etwa mit stark ausgeprägtem Autismus oder unbehandelter ADHS – in der öffentlichen Wahrnehmung unsichtbar bleiben. Oft profitieren vor allem jene vom Konzept, die ein relativ hohes Funktionsniveau aufweisen und sich selbst als „neurodivers“ positionieren können. Menschen mit schweren Beeinträchtigungen oder hohem Leidensdruck hingegen werden durch die Debatte mitunter ausgeschlossen – auch weil ihre Realität kaum abgebildet wird.
Eine unbehandeltete ADHS führt oft zu einem immensen Leidensdruck und hat in diesem Sinne krankheitswertige und behandlungsbedürftige Auswirkungen, was nichts mit Stigmatisierung oder "Schubladendenken" von psychiatrischen Diagnosesystemen zu tun hat. Die Therapie von ADHS ist oftmals wie eine Eintrittskarte zu einem besseren Leben - aber die Therapie erfordert eine fundierte Diagnose. So sehr das Konzept der Neurodiversität im Sinne von Entstigmatisierung zu begrüßen ist, so wichtig ist dennoch der medizinische, und leider mithin defizitorientierte Zugang, der eine Behandlung erst ermöglicht.
Die Sorge, das Neurodiversitätskonzept könnte zur Ablehnung von Hilfsangeboten führen, hält Schomerus hingegen für unbegründet. Der soziale Druck, etwa in Schule oder Beruf, sei nach wie vor spürbar und bedeutet oft eine große Bürde für die Betroffenen. das Konzept der Neurodiversität könne helfen, diesen Druck zu mildern und von Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen zu entlasten.