Gibt es ein late-onset ADHS?
Die Frage, ob ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) erstmals im Erwachsenenalter auftreten kann, wird in der Forschung intensiv diskutiert. Traditionell gilt ADHS als neuroentwicklungsbedingte Störung mit Symptombeginn in der Kindheit. Seit fast zehn Jahren und vermehrt in den letzten Jahren deuten Studien deuten darauf hin, dass sogenannte "Late-Onset"-Fälle existieren könnten, bei denen die Symptome erst in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter auftreten.
Einige Geburtskohortenstudien berichten von einer Prävalenz von 2,5% bis 10,7% für ADHS, die erstmals in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter auftritt. Diese Studien legen nahe, dass ein signifikanter Anteil der Erwachsenen mit ADHS keine Symptome in der Kindheit aufwies. Kritiker argumentieren jedoch, dass diese späten Diagnosen auf zuvor unentdeckte Symptome oder auf andere Faktoren wie Substanzmissbrauch oder komorbide psychische Störungen zurückzuführen sein könnten.
Eine der interessantesten Studien zu diesem Thema stammt von Terrie E. Moffitt und Kollegen aus dem Jahr 2015 mit dem Titel "Is Adult ADHD a Childhood-Onset Neurodevelopmental Disorder? Evidence From a Four-Decade Longitudinal Cohort Study". Die Forscher analysierten Daten der Dunedin Multidisciplinary Health and Development Study, einer Kohorte von 1.037 Personen, die von der Geburt bis zum Alter von 38 Jahren verfolgt wurden. ADHS-Symptome und Diagnosen wurden in regelmäßigen Abständen sowohl in der Kindheit als auch im Erwachsenenalter erhoben.
Ergebnisse:
- Kindheits-ADHS: 2,5% der Teilnehmer erfüllten die Kriterien für ADHS in der Kindheit. Von diesen erfüllte keiner die Kriterien für ADHS im Erwachsenenalter.
- Erwachsenen-ADHS: 6,0% der Teilnehmer erfüllten die Kriterien für ADHS im Erwachsenenalter. Die Mehrheit dieser Fälle zeigte keine ADHS-Symptome in der Kindheit.
- Unterschiede zwischen Kindheits- und Erwachsenen-ADHS: Die beiden Gruppen unterschieden sich hinsichtlich Geschlecht, kognitiver Fähigkeiten und anderer Merkmale, was darauf hindeutet, dass es sich um unterschiedliche Syndrome handeln könnte.
Schlussfolgerungen: Die Ergebnisse legen nahe, dass ADHS im Erwachsenenalter nicht immer eine Fortsetzung einer in der Kindheit begonnenen Störung ist. Vielmehr könnten die im Erwachsenenalter auftretenden Symptome auf andere Ursachen zurückzuführen sein und erfordern daher eine eigenständige Untersuchung.
Diese Studie hat die Diskussion über die Natur von ADHS im Erwachsenenalter angeregt und weist darauf hin, dass weitere Forschung notwendig ist, um die Ursachen und Merkmale von ADHS mit spätem Beginn besser zu verstehen.